Jedes Jahr am 21. Februar wird der Tag der Muttersprache gefeiert. Von UNESCO ausgerufen, soll er sprachliche und kulturelle Vielfalt und Mehrsprachigkeit fördern und macht also darauf aufmerksam, wie viele unterschiedliche Muttersprachen es gibt – und dass manche Menschen mehrere haben.
Ich bin in Deutschland aufgewachsen, zuhause wurde Deutsch gesprochen, aber nicht nur: Meine Mutter, die an der Schweizer Grenze aufgewachsen ist, sprach und spricht mit mir Alemannisch. Alemannisch ist also meine tatsächliche „Mutter“sprache. Die Dialekte des Alemannischen verorten sich im Südwesten Deutschlands, im französischen Elsass, der Schweiz, Liechtenstein und im österreichischen Vorarlberg und werden von Millionen Menschen gesprochen. Je nach Region unterscheiden sie sich deutlich voneinander, ebenso aber vom Standarddeutschen.
Nicht selten gab es irritierte Blicke, wenn andere uns reden hörten in der rheinland-pfälzischen Stadt, wo wir wohnten und man eigentlich einen ganz anderen Dialekt sprach. Ich erlaubte mir häufig den Spaß, neue Bekanntschaften zu verwirren, indem ich sie nicht vorwarnte und einfach plötzlich in den tiefsten Dialekt wechselte, sobald meine Mutter zugegen war – wobei es nicht einmal immer absichtlich passierte. Die Sprache, die ich mit ihr spreche, meine Muttersprache, ist mir so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich die Wechsel manchmal gar nicht oder erst später bemerke. Mit ihr Alemannisch zu sprechen, ist das natürlichste der Welt.
Als ich selbst ein Kind bekam, stand außer Frage, welche Sprache ich mit ihm sprechen wollte. Mittlerweile ist das Kind zwei, spricht weder Alemannisch noch Standarddeutsch fließend, versteht jedoch beides und spricht die Sätze, die es spricht, mal in dieser, mal jener Sprache, mal völlig durcheinander. Seine Sprache entwickelt sich genau so, wie sich Mehrsprachigkeit bei Kindern entwickelt – das trifft also nicht nur auf verschiedene Sprachen, sondern auch auf Dialekte zu.
Weiterhin wohnen wir weit weg vom alemannischen Sprachraum – und dennoch fühle ich mich dort völlig zuhause, wenn ich da bin. Sprache ist nie nur Kommunikationsmittel, sondern auch Identität, Kultur, Heimat. Auch deswegen spreche ich mit meinem Kind in meiner Muttersprache, damit es versteht, woher es kommt, dass es viele Heimaten geben kann, dass Sprachen selbst in sich vielfältig sind und dass wir Menschen vielfältig sind. All das gilt es zu feiern – nicht nur, aber vielleicht besonders an Tagen wie heute.
Wer mehr über Alemannisch wissen möchte, dem sei die Muettersproch-Gsellschaft ans Herz gelegt. Sie ist ein Verein, der sich dem Erhalt und der Dokumentation des Dialektes widmet. Dafür organisiert und realisiert sie Veranstaltungen, Stammtische, Schreibwettbewerbe und andere Projekte. Ihr findet sie über ihre Homepage, über Facebook, Instagram und Threads.
Zu fast jedem dieser Bücher wollte ich schon vor Monaten geschrieben haben, insbesondere zu den Rezensionsexemplaren (Auge vor allem @Haymon Verlag, I’m very sorry aber besser spät als nie <3 und immerhin sind es beides Lieblingsbücher geworden!).
Die Reihenfolge wird nicht sein wie im Bild, sondern nach Grenres: (Essay)Romane, Jugendbücher, Graphic Novels, Sachbücher. Ich werde vor allem über meine Meinung und meine Empfindungen beim Lesen schreiben, Inhaltsangaben findet ihr bei den Verlagen und oder den Social Media Accounts der Autor*innen.
(Essay)Romane Lieber Haymon Verlag, ich war vorher schon Fan von euch, nach diesem Jahr aber besonders sehr. Ihr habt ein Drittel meiner liebsten Bücher dieses Jahr veröffentlicht und das ist bei 121 gelesenen Büchern dieses Jahr mehr als beeindruckend (das ist es ja schon nur bei diesen neun, seien wir ehrlich). Außerdem sind alle drei von nichtbinären Personen, allein das schon ein Grund sie lesen zu wollen und dann sind sie auch noch so unfassbar gut. Danke für die Rezensionsexemplare und die wunderbare Zusammenarbeit an Chaos.
Das erste Buch, das ich 2024 vom Haymon Verlag gelesen habe, war Sieben Sekunden Luft von Luca Mael Milsch. Und Entschuldigung, aber was ist das bitte wie ein unsagbar großartiges Buch? Ich habe geliebt, wie klug dieses Buch geschrieben ist, wie genial mit Zeitformen hantiert wird, wie ich mit der Hauptfigur mitgefühlt habe und wie ich das Buch wirklich kaum aus der Hand legen konnte. Es ist keine leichte Lektüre, aber eine, die ich allen ans Herz legen möchte, die es grade tragen können.
Das zweite war Chaos von Yassamin-Sophia Boussaoud. Als ich die Ankündigung des Buches auf Instagram sah, war ich instantly hyped, weil ich Minos Content und Schreiben sehr schätze, das Buch wanderte direkt auf meine Wishlist – und zwei Tage später fand ich eine E-Mail von Haymon im Postfach, ob ich Chaos vielleicht lektorieren wolle..? Ich wollte. Ich kenne also schon die Rohform dieses Buchs und bereits die war auf eine Weise geschrieben, dass ich alle Gefühle hatte beim Arbeiten und zwar auf die beste Art (ich liebe das). Ich liebe den Aufbau des Buchs, die Gedichte, die die Kapitel einleiten, die poetische Sprache, die verwendet wird und was ich alles lernen durfte beim Lesen und Lektorieren. Wer sich mit Sachbüchern und Essays manchmal schwertut, aber gerne über intersektionalen Feminismus lernen möchte, sollte dieses Buch lesen. Und eigentlich einfach alle anderen auch.
Das dritte Buch war Alles dazwischen, darüber hinaus von Maë Schwinghammer. Schon der Titel war einer, der mich direkt neugierig machte, und dann las ich, dass es über Autismus, Klassismus und Transsein geht und ich war full on hooked. Ich mochte sehr, wie all diese Themen in einem Roman miteinander verwoben wurden, wie Worte gefunden wurden für Schmerz und Sprachlosigkeit, und wie ich mich fand und erkannte an dieser und jener Stelle und Neues lernte über Positionierungen, die ich nicht teile, Perspektiven, die ich selbst nicht kenne. Es sind solche, die bisher selten gelesen und gehört werden und dann in einer solchen Sprache geschrieben – absolut lesenswert.
Allgemein: Von allen dreien würde ich sofort weitere Bücher lesen. Werde ich. Ich manifestiere das jetzt. (No pressure, ihr drei, ich bin geduldig <3)
Jugendbücher Ich lese ja einigermaßen genre- und altersklassenübergreifend, deshalb sind auch immer wieder Jugendbücher dabei – auch weil ich froh bin zu sehen, dass es in allen Bereichen immer mehr Vielfalt zu lesen gibt.
Das erste Jugendbuch, dass es in meine Jahresfavoriten geschafft hat, ist ironischerweise eines, das gar nicht sooo viel Vielfalt hat, aber mich eben doch ganz schön in seinen Bann gezogen hat: Amelia – alle Seiten des Lebens von Ashley Schumacher. Es war ein klassischer Coverkauf, ich war in einem Laden mit ausschließlich Mängelexemplaren und dieses Buch hatte Wale auf dem Cover und verhieß mir eine Geschichte über die Liebe zur Literatur, eine einfache Entscheidung und im Nachhinein eine sehr glückliche. Auch dieses Buch hat schwere Themen, der Todesfall der besten Freundin der Hauptfigur steht im Mittelpunkt, es gibt einen mit eigenen Problemen überforderten Elternteil und dann die ganzen Probleme, die Jugendliche sonst sowieso haben, und für die sie alle ihre eigenen Umgangsformen finden. Amelias Lösung ist, sich bei Überforderung Wale vorzustellen, wie sie zum Beispiel durch Wälder schweben. Das wird so unglaublich schön beschrieben, dass ich jedes Mal ganz melancholisch wurde und sie beinahe beneidete um diese Form der (Dis)Assoziation. Keine leichte Geschichte, aber eine, die ich wirklich wirklich gern gelesen habe dank ihrer schönen Sprache und Bilder.
Das zweite Jugendbuch lief mir irgendwo auf Instagram über den Weg, Harte Schale, Weichtierkern von Cornelia Travnicek. 2023 war es für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und erzählt von einer autistischen Jugendlichen – und oh dammit, ich hab mich so gesehen und gelesen gefühlt. So viele Gedanken, die ich selbst auch kenne, so viele Fragen, die ich mir (damals und jetzt noch) gestellt habe, so viel autistische Realness und das alles so unglaublich toll illustriert (vorwiegend mit Oktopoden, dem Spezialinteresse der Hauptfigur). Große Liebe, wirklich.
Graphic Novels Boah. Beide einfach *insert Emoji here, dem der Kopf explodiert*. So so so gut.
Genderqueer von Maia Kobabe wurde bereits vielfach besprochen, unter anderem weil es einer der Bücher ist, die in vielen Bibliotheken in den USA verboten ist. Seit diesem Jahr gibt es eine deutsche Übersetzung, ich habe allerdings das englische Original gelesen. Und geweint. Und mitgefühlt. Und mich gefreut. Und ach. Es ist ein Buch, das glaube ich mindestens alle Queers lesen sollten und alle anderen auch um unsere Realitäten besser zu verstehen.
Auf einem Sonnenstrahl von Tillie Walden hatte ich spontan aus der Bibliothek ausgeliehen und möchte ich jetzt dringend auch selbst haben weil WOW. Was sind das für Bilder und kann ich bitte mein Zimmer mit ihnen tapezieren? Unfassbar toll gezeichnet und eine Geschichte, die mich vor allem durch die Bilder gefangen genommen hat (und ich bin ehrlich, ich bin nicht mal sicher, ob ich alles verstanden habe). Es gibt keine männlichen Charaktere (allein das halt schon mal!) und so viel Solidarität und Chosen Family. Große, große Empfehlung.
Sachbücher Sachbücher sind mit das häufigste Genre, was ich lese, glaube ich, und dennoch selten in meiner Favoritenliste. Ich glaube, weil ich zu selten mehr fühle, als Wut. Schade eigentlich.
Selbstlos: Die Zweifel der modernen Mütter, die alles geben und sich selbst dabei verlieren von Sina Schröder war eines der ersten Sachbücher dieses Jahr und puh uff. Auch da viel Wut, aber auch so viel Mitgefühl, das mitgegeben wurde. Es ist nicht inklusiv geschrieben, es spricht nur von Müttern und Frauen und übersieht all die Menschen wie mich, die gesellschaftlich als Mütter behandelt werden, aber keine sind. Trotzdem ist es ein Buch, das mir gut tat, das mir Denkweisen mit an die Hand gab, die mich in meiner Elternschaft und meinem Umgang mit der Gesellschaft sehr vorangebracht haben, mich teilweise sogar versöhnen konnten. Es ist sanfter als viele andere derartige Bücher und das war etwas, das ich sehr brauchte zu dieser Zeit.
Das Buch, das diese Liste abschließen darf, ist Unertrunken. Was ich als Schwarze Feministin von Meeressäugetieren lernte. von Alexis Pauline Gumbs. Wahrscheinlich hätte ich es wie Chaos auch als Essayroman listen können, aber irgendwie eben auch nicht. Vielleicht brauchen Bücher wie diese eigene Kategorien, Poetisch-erzählende Essayromane? Irgendwie so. Ich habe sehr lange gebraucht, dieses Buch zu lesen, weil ich immer wieder fühlen und denken und einordnen musste. Es ist ein sehr (!) spirituelles Buch und es wird nichts für alle sein. Aber wer sich darauf einlassen kann und will, wird darin vieles finden. Sätze und Formulierungen, die tief berühren („an Land das Meer einfordern“), so vieles über verschiedene Wassertiere, was ich nicht wusste und so vieles über Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft, das ich neu einzuordnen lernte. Ich bin dankbar für dieses Buch und seine Sprache und Anstöße und dass ich es lesen und daraus lernen durfte.
Literaturfazit 2024 Fest steht, ich hab ganz schön viele gute Bücher gelesen. Und dennoch ist nur eine Auswahl hier gelandet, weil es da eben diesen einen Spark gab, den es bei den anderen nicht gab – vielleicht gäbe es ihn beim zweiten Mal lesen, vielleicht nicht, und wahrscheinlich hat es eh auch immer mit dem Zeitpunkt des Lesens zu tun, was einen besonders berührt. Auffallend ist, dass tatsächlich keine cis Männer in dieser Liste auftauchen dieses Jahr, ich habe aber auch deutlich mehr nicht cis-männliche Autor*innen gelesen. Mal sehen, was 2025 bringt, ich bin gespannt.
behindert. behindert, behindert, behindert ich streiche das Wort wieder durch lege es mir orientierungslos in den Mund auf die Zunge fast ein wenig zu groß für einen einzelnen Bissen es erinnert mich zunächst an ein Vesperbrot eines, das zu lange, Tage vielleicht in der Brotdose lag schimmelt noch nicht aber schon lange eine Mahlzeit zweiter, dritter, vierter Klasse die niemand mehr essen wird durch meinen Speichel zersetzt, wird es weicher und weniger bitter beginnt beinah süßlich zu schmecken ich fange an zu kauen zermalme die Buchstaben zwischen meinen Backenzähnen schlucke ihre Masse, verschlucke mich fast soll doch mein Magen schauen wie er behindert verdaut.
mein Magen nimmt sich der Sache an ich rechne mit Übelkeit die ausbleibt ein leises Grummeln stattdessen er will mehr ich schiebe mir die Zettel mit den Diagnosen zwischen die Zähne und zwei, drei Wikipedia-Seiten und ein Fachbuch hinterher leichte Kost, so wichtig und dann würge ich doch man stellt mir einen Eimer hin jemand kocht Tee und reicht mir einen harmlosen Lyrikband weil der Zwieback alle ist.
ich blicke auf die Misere im Eimer zu schnell zu viel gewollt ich schütte es weg die Buchstaben schwimmen oben in der Kloschüssel gänzlich unverdaut offenbar doch unzerkaut zweifle kurz an meinem Mundwerk an meinen Magensäften, die sie ohne Schaden davonkommen ließen starre auf die Lettern
wie sie dümpeln drücke die Spülung erwarte, sie in einem Wirbel aus Wasserstrudeln in der Kanalisation verschwinden zu sehen doch als das Wasser wieder stillsteht treiben sie noch immer an der Oberfläche auch nach dem zweiten Spülversuch ich fische die Buchstaben also heraus Ekel überwindend, alles in mir sträubt sich ich wasche die Buchstaben im Waschbecken ab lege sie auf ein Handtuch auf der Fensterbank und schaue ihnen beim Trocknen zu.
nass wie trocken sehen sie gleich aus ich ordne sie an in ihrer ursprünglichen Form und lasse sie liegen ihre Blicke scheinen mich zu verfolgen selbst wenn ich die Wohnung verlasse spüre ich sie auf mir ich wusste bisher nicht, dass Worte Augen haben können.
ich versuche die Blicke zu ignorieren, zu vergessen nach einigen Tagen ergebe ich mich ich nehme behindert von der Fensterbank setze das Wort vorsichtig aufs Sofa wo es einsinkt, so gewichtig setze mich daneben nur die Bedeutung zwischen uns ich nähere mich ihm an vorsichtiger dieses Mal, sachter erzähl mir von dir flüstere ich schließlich und beginne.
es war einmal das Kind, das ich war schweigsam bis es zwei war zu viele Worte mit sieben aber zurückhaltend, so sind Mädchen eben schön, dass das Kind so viel liest und so viele Interessen hat wie gewissenhaft es ist beeindruckend seine Auffassungsgabe wir verstehen wirklich nicht, wieso es ständig ausrastet in der Schule vielleicht unterfordert nein, zusätzliche Förderung können wir leider nicht leisten also liest das Kind im Unterricht die Schulbibliothek aus.
dann spielt es Theater Mensch, toll und fällt dir das Textlernen schwer magst du es in verschiedene Rollen zu schlüpfen das Kind verneint und bejaht und schweigt über all seine Rollen für die es kein Script gibt so sehr es auch sucht für das Mädchen, das es sein soll es verweiblicht sich so gut es geht bis auf weiteres Drag Queen seiner selbst
to all those talented yet academically underperforming theatre kids how’s your AuDHD diagnosis going blinkt es mir auf Instagram entgegen like! ich wünschte, ich wäre nie Drag Queen gewesen nie Rollen über die Stücke hinaus nicht überall dieser Versuch eines Menschen der für die anderen passt angepasst, Sinn ergibt dazugehört, doch nie dazugehört immer veranderst vom außen verzweifelt von innen ich wünschte, ich hätte gewusst warum.
stattdessen Fehlverdachtsdiagnosen, Komorbiditäten Depression, Panikattacken, Zusammenbrüche Fachpersonal, das sieht und nicht sieht, nicht sehen will vermeintliche Mädchen, Frauen sind am ehesten Borderlinerinnen über diese Borderline blicken wir lieber nicht hinaus man könnte ja mehr sehen als den eigenen Horizont wenn es was anderes wäre das wäre doch schon viel früher aufgefallen außerdem sind nur kleine cis Jungs betroffen das verwächst sich bei Erwachsenen fällt es gar nicht mehr so ins Gewicht die lernen damit umzugehen außer die schweren Fälle, naja.
ich frage mich, was schwere Fälle sind bin ich ein schwerer Fall nein, sagt der Therapeut Sie machen das ja gut (ich bezweifle das) Sie kommen ja zurecht (ich verneine das) aber Ihr Erleben Ihres Lebens lässt sich klar zuordnen spektrenartig Ihre Diagnosen sind uneindeutig eindeutig wären Sie ein Junge, reichte die Punktzahl nicht aus doch in Ihrem Fall herzlichen Glückwunsch Sie waren hiermit schon immer behindert.
ich höre meine Mutter nie über mich sagen dass ich behindert bin mein Kind ist autistisch, sagt sie und ADHS, beides spätdiagnostiziert ja im Nachhinein hätte man es wohl schon wissen können jetzt in Retrospektive nachher ist man immer schlauer sie verneint es auch nicht dass ich behindert bin doch kommt ihr das Wort in Bezug auf mich nie über die Lippen.
manchmal lässt mich das fragen ob ich behindert genug bin wenn andere den Begriff für mich meiden finden sie mich eben nicht behindert genug weil man es nicht sieht kein Rollstuhl, Hörgerät, Langstock keine Trisomie und keine Spastik nur ADHS, nur Autismus.
nur immerzu alle Eindrücke einer ganzen Welt, jede Stimme, jeder Windhauch, jeder winzige Bauchschmerz, jedes Hupen, jeder Abgasgeruch, jedes Vogelzwitschern, jedes Hundegebell, jeder Hundebesitzerin, jeder Geschmack vom letzten Snack, jeder Spritzer Parfüm, den Entgegenkommende tragen, jede kleine Verletzung, bis sie verheilt ist, jede quietschende Zugbremse, jedes summende Insekt, jedes Wasserglitzern, jedes Klimpern meiner Wimpern, wenn sonst alles still ist, jeder nächtliche Schattentanz auf Gehwegplatten, jede duftende Blüte, jede Kleinigkeit, die sich seit dem letzten Mal verändert hat, jeder Sonnenstrahl, jede Gesichtspartie, wo die Sonnenbrille aufliegt, jedes Kleidungsstück, jedes Geräusch dieser Kleidungsstücke, jede Körperstelle, die deine bei unserer Umarmung berührt, jede Emotionswelle.
jedes Gefühl, das in den letzten Stunden präsent war immerzu als Ahnung unter der Oberfläche jederzeit bereit hervorzubrechen, weil irgendein Reiz es herausfordert manchmal Secondhand-Gefühle, die andere fühlen und mir unter die Haut kriechen, als wäre sie zu dünn so durchlässig, als wäre Emotionsosmose ein normaler Prozess für sie und dann fühle ich fremde Trauer, Wut, Angst, Verzweiflung. als wären sie meine eigenen und weiß nicht, was ich eigentlich selbst fühle.
ich weiß oft nicht, ob ich hungrig bin oder mir zu warm ist ich finde es meist nur durch Ausprobieren heraus ich weiß genau und jederzeit, wo meine Socken enden aber zu oft nicht, ob ich eigentlich was getrunken hab heute.
ich sehe jeden Logikfehler, aber oft nicht die Tasse auf dem Tisch die seit Tagen in die Spülmaschine gehört die Rechnungen und Anträge, wochenlang unbearbeitet bis Mahnungen und Konsequenzen folgen und die Panik und Scham weil ich schon wieder versage mit diesen Dingen, die ich doch können sollte ich bin doch erwachsen, ich bin doch verantwortlich ich sollte müsste muss doch und kann nicht, so oft nicht Angst vor meiner bloßen Existenz gepaart mit Existenzangst beende den Tag im Meltdown weinend in die Matratze schreiend, schlagend zu viele Reize zu viele Gefühle zu viel alles zu wenig nichts.
Sie sehen gar nicht autistisch aus mir können Sie jedenfalls gern in die Augen schauen sagt der Orthopäde und ich weiß wieder nicht, ob ich froh sein soll kein Klischee zu sein ich kann ihm jetzt nicht mehr in die Augen schauen es ist, als finge ich sonst Feuer und ich frage mich wie viel offensichtlicher ich sein sollte wie viel autistischer ich aussehen müsste (wie sieht man autistisch aus?) während ich die Kopfhörer um den Hals habe nur der Höflichkeit halber abgenommen obwohl ich auch mit ihnen noch alles höre die Sonnenbrille im Haar obwohl die Lampen zu grell sind ob ich jedes Stimmingtoy vorzeigen müsste jederzeit meine Diagnose in einem Umschlag dabei natürlich dürfen Sie die sehen wir kennen uns nicht aber natürlich haben Sie alle ein Anrecht darauf zu bewerten ob ich eigentlich wirklich und tatsächlich behindert bin und ob eigentlich behindert genug wie behindert muss ich sein um behindert zu sein
Menschen mit Behinderungen sind Menschen die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Definition nach dem Neunten Sozialgesetzbuch (§ 2 Abs. 1 SGB IX)
der Staat findet mich in Rücksprache mit meinem Therapeuten, meiner Hausärztin und meinem Psychiater behindert genug.
ich selbst verbleibe in Zweifeln was, wenn sich alle geirrt haben was, wenn ich mir das nur einbilde dass mich Reize schnell überfordern dass ich keinen Fokus halten kann ohne Hyperfokus dass ich sehe, was andere nicht sehen und übersehe, was sie wie selbstverständlich sehen die autistischen Burnoutzustände – alles Zufall das ständige Stimming sowieso erst kurz vor der Deadline irgendwas zustande bringen, völlig normal aber eben nicht cool.
völlig normal für mich, doch nicht für alle nicht romantisch, nur anstrengend, überlastend, potenziell tödlich autistische Erwachsene mit Lernbehinderung sterben 30 Jahre früher als der Durchschnitt jene ohne Lernbehinderung leben mit neunmal höherem Risiko an Suizid zu sterben als die allgemeine Bevölkerung Menschen mit ADHS haben häufiger Essstörungen, Suchterkrankungen 80% der Autist*innen haben auch ADHS 50% der ADHSler*innen sind autistisch überdurchschnittlich viele Autist*innen sind noch dazu queer insbesondere trans, viele auch nichtbinär weil Normativitäten keinen Logiken folgen folglich unlogisch für neuroqueere Gehirne 40% aller trans Menschen haben einen Suizidversuch hinter sich.
die Risiken überschneiden sich und finden sich in allgemeiner Diskriminierung, Marginalisierung, Menschenfeindlichkeit und ständigem Versuch selbst ein klein wenig besser dazustehen doch nicht so behindert lieber nicht so queer wenig Stolz, wenn es so viel abverlangt Queer Pride Month Juni Disability Pride Month Juli feiern soll ich mich aber nicht vergessen the first pride was a riot wir haben nicht aufgehört zu kämpfen als ob ich das vergessen könnte wenn ich niemals nicht kämpfe für meine Zugänglichkeiten, Barrierefreiheiten keine Pride erreichbar für mich zu viele Menschen, zu viele Reize und was, wenn ich nicht queer, nicht nichtbinär, nicht trans genug bin.
aber natürlich kämpfe ich trotzdem, nur für den Fall schließlich bin ich nicht frei, solange die andern es nicht sind bin zugleich Unterdrücker*in, solange ich nicht ständig weiter Türen öffne selbst wenn ich nicht mehr kann kann mir Schuld zugeschoben werden ich hätte doch wirklich noch mehr tun können anderen geht es doch so viel schlechter als mir und so behindert sehe ich doch schließlich gar nicht aus.
nicht behindert genug in so vieler Augen zu behindert für die Norm, gesellschaftlich vorgefertigt was nicht passt, wird schließlich passend gemacht frag mich, wo ich stattfinden darf wer mich stattfinden lässt wenn ich meine Belange benenne wo muss ich schweigen um sein zu dürfen keine Ausnahmen, keine Extrawurst, schon gar nicht veggie füg dich ein, du kannst es doch, es ging doch über Jahre irgendwie warum stellst du dich jetzt so an
weil ich müde bin. weil ich wirklich nicht mehr kann. dieses Mal wirklich nicht mehr.
man fängt mich ein und auf versorgt meine Wunden pflegt meine Seele streichelt meinen Kopf hüllt mich ein Gewichtsdecke schwer auf meinem Körper Körper neben mir flüstern beruhigend und schweigen queer disabled community care fühlen und gefühlt werden einander halten aneinander um einander für einander mit einander weil man versteht wenn man kennt.
man entwickelt ein neues Verständnis von Zeit fünfzehn Minuten an manchen Tagen eine Ewigkeit an anderen ein Wimpernschlag, ein Augenblick oft beides zugleich manchmal Tage zu kurz, Sekunden zu lang sich einfinden sich zugestehen endlich, endlich zugestehen.
behindert behindert, behindert, behindert ich schreibe es zeilen-, seitenweise ich streiche es nicht mehr aber hin und wieder koste ich von ihm es ist mittlerweile weniger fremd wenn ich damit über meine Lippen streiche seinen Geruch in mich aufnehmend der dem Nichts am ähnlichsten ist es mir in den Mund lege manchmal denke ich beinah es zergeht ein wenig auf der Zunge es schmeckt inzwischen weniger verloren noch immer bitter manchmal doch immer mit süßlicher Ahnung.
oft denke ich behindert sei gewachsen und halte es doch immer wieder im Arm wie ein Kind tröstend, wir beide einander wiegend vor – zurück – vor – zurück – vor – zurück bis die Ruhe wieder einkehrt in meinem Körper, in seinen Buchstaben.
manchmal gehen wir schwimmen lassen uns treiben Himmel über uns und sowas wie Freiheit um uns herum so berechenbar die Geräusche so fein die Textur des Wassers mir scheint jedes Mal als würde behindert noch tagelang schweben.
hin und wieder fahren wir ans Meer mal ein warmes, mal ein kaltes starren Ewigkeiten in unserem Tempo auf die Wellen wie sie an den Strand schwemmen fast zärtlich behindert möchte auch so liebkost werden also kraule ich seine Lettern und streiche ihre Anspannung aus.
zuhause schauen wir Naturdokumentationen über Wale und Oktopoden oder ich lese behindert Lyrik vor oder ganze Romane in einigen kommen wir vor in den allermeisten nicht also schreiben wir selbst behindert schreibt sich.
dann und wann gehen wir tanzen zerfließen in der Musik eins miteinander ich bin da, schreit behindert in den Bass ich weiß, brülle ich zurück und am nächsten Morgen bleiben wir lange liegen.
oft sind wir einfach irgendwo draußen ausgestreckt auf einer Wiese kitzelndes Gras unter Körper und Buchstabenrundungen ins unendliche Blau blickend während meine Hände flattern und abheben und wir schauen ihnen nach bis sie am Horizont verschwunden sind.
Manchmal lese ich Bücher, die ich schrecklich finde, die problematische Inhalte vermitteln – und trotzdem kommt es nicht selten vor, dass ich diese Bücher fertiglese. Manchmal hat mich doch irgendwas gehooked in der Geschichte, meistens blicke ich einfach nur besonders tief in diesen Abgrund, wie bei einem Unfall, bei dem man weggucken möchte, aber nicht kann. Diese Bücher geben mir einen Eindruck davon, wie viel noch zu tun ist.
Es kommt, zugegebenermaßen, nicht allzu oft vor, dass ich an solche Bücher gerate, auch wenn garantiert die Mehrzahl der Neuerscheinungen nicht so sensibel ist, wie ich sie mir wünschen würde. Die meisten Bücher, die ich mittlerweile lese, sind ziemlich gut. Ich vertraue den Empfehlungen von Freund*innen und Buchblogger*innen, denen ich auf Social Media folge, entdecke unter den Ankündigungen der Verlage Neues und Interessantes und manchmal auch tatsächlich einfach spontan im Laden oder in der Bibliothek.
Hin und wieder aber mache ich dort einen Fehlgriff oder mir wird ein Buch geschenkt, hinter dessen Sprache und oder Geschichte ich nicht stehen kann. Es sind häufig Bücher, die besonders divers und inklusiv sein wollen, dabei aber grundlegende Regeln beim Schreiben vergessen wurden. Ich stoße auf Bücher mit Repräsentation von behinderten Menschen, wo allem Anschein nach weder Autor*in noch Lektorat sich die Mühe gemacht haben, basic Regeln rund um nichtableistische Sprache zu recherchieren, sondern fröhlich weiter reproduzieren, was seit Jahren kritisiert wird. Oder Bücher mit queeren Personen, die ein Klischee nach dem anderen erfüllen, trans Personen, die komplett unnötig gedeadnamed und misgendert werden usw usw. Ein gravierendes und leider auf dem Buchmarkt ziemlich erfolgreiches Beispiel dafür ist „Mein Bruder heißt Jessica“ von John Boyle über ein trans Mädchen – in dem also schon im Titel gemisgendert wird. Der gesamte Fokus ist auf dem Geschwisterkind aus dessen Perspektive geschrieben wird, all seinen Struggles, ohne dass die Probleme des trans Mädchens wirklich ernstgenommen werden, geschweige denn irgendwie sensibel aufgearbeitet.
Es gibt nach wie vor einfach viel zu viele Bücher, die vor diskriminierender Sprache und Inhalten nur so triefen. Und, klar, wir Autor*innen können nicht alles wissen. Aber: Wir sollten uns weiterbilden, so wie es alle Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten tun sollten, um andere nicht zu diskriminieren und zu verletzen. Gerade wir, die wir mit unseren Worten eben auch Gesellschaft abbilden und gleichzeitig unsere Lesenden mit unserer Sprache und unseren Inhalten prägen, sollten besonders achtsam sein. Und da wir eben nicht alles wissen müssen und können, sollten wir uns Hilfe holen. Genau deshalb gibt es doch Angebote wie Sensitivity Reading und/oder Sensitivity Beratung.
Liebe Autor*innen, nehmt diese Hilfe an. Setzt sie bei euren Verlagen durch. Liebe Verlage, nehmt diese Hilfe an. Bezahlt sie angemessen. Und dann freut euch über bessere Bücher. Es ist am Ende ein Win-Win für alle.
Mit Kindern über Diskriminierung sprechen von Olaolu Fajembola und Tebogo Nimindé-Dundadengar, erschienen 2024 im Beltz Verlag, ist ein weiteres Grundlagenwerk für Diskriminierungsbewusstsein, nun eben mit dem sehr wichtigen Fokus auf dem Thema Erziehung. Wie kann man Kindern die Systematik und die Strukturen hinter Diskriminierung bewusst machen, wie kann man betroffene Kinder stärken und schützen und nichtbetroffene Kinder aufklären, das sind die Hauptfragen, denen die Autorinnen gemeinsam mit acht Expert*innen nachgehen. Neben dem eigenen Themenschwerpunkt Antischwarzer Rassismus und Colorism, zu dem Olaolu Fajembola und Tebogo Nimindé-Dundadengar bereits das Buch „Gib mir mal die Hautfarbe. Mit Kindern über Rassismus sprechen“ (Beltz, 2021) veröffentlicht haben, finden folgende weitere Marginalisierungen Raum: antimuslimischer Rassismus, antiasiatischer Rassismus, Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze, Antisemitismus, Queerness (insbesondere Geschlecht), Dick_Fettfeindlichkeit, Ableismus und Klassismus.
Die beiden Autor*innen schreiben alle Kapitel selbst, beschreiben ihre eigenen Erfahrungen und Unsicherheiten mit den Themen, machen sie dadurch nahbarer und zeigen deutlich: Wir alle haben diskriminierendes Verhalten verinnerlicht, wir alle müssen dazulernen. Diese Position so offen zu zeigen, ist eine der großen Stärken dieses Buchs. Was die Autor*innen selbst verstanden und gelernt haben, fassen sie in den Kapiteln zusammen, immer gestützt von Zitaten und Erzählungen der Expert*innen, die alle selbst Angehörige der jeweiligen marginalisierten Gruppe sind.
Für mich selbst das mit Abstand aufschlussreichste und lehrreichste Kapitel was das Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze. Zu allen anderen Themen hatte ich vorher auf unterschiedliche Art und Weise schon vieles dazulernen können, weil es schon deutlich mehr Material und auch insgesamt an vielen Stellen mehr Sichtbarkeit gibt (und ich bin ziemlich sicher, nicht nur in meiner Bubble ist das so). Ganz ehrlich, allein für dieses Kapitel sollte man in meinen Augen dieses Buch lesen – auch wenn alle anderen Kapitel ebenfalls sehr interessant und je nach Vorbildung sicherlich auch enorm lehrreich sind.
Bei den Themen, die mich selbst betreffen und für die ich selbst Expert*in bin, war ich naturgemäß am Kritischsten beim Lesen – und habe tatsächlich kleinere Anmerkungen, aber eben auch nur das. Beim Kapitel zu Ableismus (also Diskriminierung gegen behinderte und/oder chronisch kranke Menschen) hätte ich mich gefreut, wenn es eine Einordnung von Behinderung gegeben hätte. Ableismus wird definiert, nicht aber Behinderung selbst, das fand ich einigermaßen irritierend. Es wäre gut gewesen, zu besprechen, dass manche Behinderungen nicht auf den ersten Blick sichtbar sind, dass es auch neurologische Behinderungen gibt, nicht nur körperliche, psychische und Lernbehinderungen gibt. Beim Kapitel zu Geschlecht fiel mir auf, dass Schreibweisen nicht einheitlich waren, inhaltlich aber auch da viel Gutes und Hilfreiches dabei.
Sowohl Eltern, wie auch Erzieher*innen, Lehrkräften und anderen Pädagog*inen kann ich dieses Buch wirklich sehr empfehlen. Es wird Vorurteile bei euch anfangen abzubauen, es wird euch helfen, Diskriminierung mit weniger Unsicherheiten mit euren Kindern zu besprechen und trägt damit zu einer Welt mit insgesamt weniger Diskriminierung bei.
Danke an den Beltz Verlag für das Rezensionsexemplar.
Marlene und das Kribbeln im Bauch ist ein Jugendbuch in Einfacher Sprache für Menschen mit und ohne Behinderung. Darin lernt Marlene bei einer Party in der inklusiven Disko Mika kennen. Sie tanzen den ganzen Abend zusammen und in Marlenes Bauch ist auf einmal so ein Kribbeln.
Das Buch von Agnes Schruf erzählt, wie Marlene sich zum ersten Mal verliebt. Die Lesenden begleiten sie über eine Woche bei allen Gefühlen, die Marlene erlebt, schön und detailliert illustriert von Malou Großklaus.
Im Großen und Ganzen hat mir das Buch sehr gut gefallen, auch weil ich es wichtig finde, dass es Bücher in einfacher Sprache für unterschiedliche Altersstufen gibt.
Zwei Kritikpunkte habe ich dennoch (für den ersten Absatz CN Erwähnung sexualisierte Gewalt, im Buch passiert aber keine):
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Gerade Frauen mit Behinderung erleben überdurchschnittlich oft sexualisierte Gewalt. In Büchern wie diesem wäre es leicht, die Wichtigkeit von Konsens unterzubringen, statt dass sich, wie hier, einfach geküsst wird. Es hätte Kommunikation dazu stattfinden können, ob man geküsst werden möchte, und vorher vielleicht auch Gespräche mit Familie oder der Integrationskraft geben können.
Aufgrund der anhaltenden Kritik durch behinderte Aktivist*innen am sogenannten Schwer-in-Ordnung-Ausweis finde ich das Vorkommen desselben im Buch nicht ideal, und mag daher in dieser Rezension auf die Kritik daran hinweisen.
Insgesamt aber ein schönes Buch, das viele Leser*innen verdient und das ich gerne gelesen habe. Danke daher an Malou Großklaus für das Rezensionsexemplar.
Ich bin spät dran. ADHS ist diesmal unschuldig, ich bin nicht wirklich spät dran (oder?). Nicht physisch spät dran. Ich fühle mich spät dran.
Gefühlt sind alle andern früher dran. Ich sehe die U20-Meister*innen im Poetry Slam, die schon mit neunzehn einen so ausgefeilten Stil haben, dass ich nur staunen kann. Ich sehe Autor*innen, die mit Ende zwanzig schon mehrere Romane veröffentlicht haben und über die nun große Zeitungen berichten, ich sehe die ersten Ausschreibungen für „Jungautor*innen“, für die ich zu alt geworden bin. Ich sehe wie Menschen, deren Schreibstil und Attitude ich tief bewundere, Preise einheimsen, für die ich auch überlegt hatte was einzuschicken und mir dann im Folgejahr bei der nächsten Ausschreibung denke: kannst du vergessen. Du bist nicht gut genug, du bist nicht so versiert, talentiert, erfahren genug.
Ich bin dreißig und ich finde Dreißigsein eigentlich bisher wirklich okay. Und trotzdem hab ich in dieser Literatur(performance)branche das Gefühl, nicht früh genug bereit gewesen zu sein.
Mit siebzehn fehlte der Slam vor Ort, um barrierefrei anfangen zu können, mit einundzwanzig fehlten aus Gründen die Worte und schließlich der Mut, Schreiben wieder für mich zu entdecken, mit sechsundzwanzig kam es langsam zurück und ich fand den Einstieg. Ich hab in der Zwischenzeit und seitdem studiert, versucht zu promovieren, einen autistischen Burnout ausgeheilt, mich selbstständig gemacht, ein Kind bekommen. Ich hab immer weiter geschrieben, seit ich meine Worte wieder habe, ich verdiene Geld mit unter anderem dem Schreiben und Performen, ich hab auch während der Schwangerschaft jeden Tag geschrieben und tue es immer noch.
Und trotzdem fühlt es sich zu spät an.
Ich könnte so viel etablierter sein, sagt das kapitalistische Drecksschwein in mir, das ich natürlich in diesem System nicht so unterdrücken kann, nicht so loswerden kann, wie ich gerne würde. Ich könnte so viel besser, so viel weiter sein.
Dabei war es ja nicht ohne Grund so, dass ich nicht schreiben konnte für ein paar Jahre. Nach einem Todesfall fehlten mir die Worte. Und den Mut wiederzufinden, doch wieder nach Worten zu suchen, während man von einer schwierigen Zeit in die nächste gerät, ist so, so schwer. Und ich will mir sagen, dass es okay ist, erst mal klarzukommen, dass es doch auch ganz gut ist, dass ich mir erst dann versuche einen Namen zu machen, wenn es auch der Name ist, den ich tragen möchte. Und absurderweise gilt man ja mit einem Debüt unter vierzig trotzdem noch als jung.
Das passt alles nicht zusammen und ich glaube auch deshalb bleiben die Gedanken, Sorgen, Ängste im Kopf. Ich hoffe (und es fühlt sich oft vergeblich an), dass sich Dinge ändern könnten. Dass es irgendwann mehr Residenzen für Künstler*innen mit Kind(ern) gibt. Dass es sowieso irgendwann (und hoffentlich bald) mehr Stipendien gibt, die barrierefrei(er) sind. Oder halt einfach ein staatliches, bedingungsloses Grundeinkommen.
Ich hab keine Lösung in mir für dieses Gefühl zu spät dran zu sein. Vielleicht hat jemand von euch Gedanken, ich freu mich von euch zu hören. Oder vielleicht geht es anderen ähnlich und vielleicht hilft es, zu wissen, dass ihr nicht allein seid damit.
Als ihr Gefährte Kater Watson von einem verschwundenen Straßenkätzchen erzählt, ist Katzendetektivin Miez Marple überzeugt, dass der kleine Streuner schnell wieder auftauchen wird. Doch sie wird eines Besseren belehrt. Denn hinter dem Verschwinden des Kätzchens verbirgt sich ein Fall, der sogar ihr das Fell zu Berge stehen lässt. Miez Marple, Watson und die Taube Betti nehmen die Ermittlungen auf. Dabei stoßen sie auf eine mysteriöse Mordserie und wohnen düsteren Treffen auf Friedhöfen bei. Doch Miez Marple und ihr Team sind fest entschlossen, den Fall zu lösen und dem Bösen ihre flauschige Stirn zu bieten.
Rezension
Miez Marple ermittelt wieder – und das ist ein Glück! Einerseits für die Katzenwelt, wer würde sonst kleine Kätzchen retten, Morde aufklären und verhindern und vor allem: wer würde fabelhafte Gedichte schreiben? Andererseits ist es aber eben auch ein großes Glück für uns, weil wir Miez und ihren Freund Watson bei den Ermittlungen lesend begleiten dürfen. Losgelöst von den Abenteuern des ersten Bandes beschreibt Fabian Navarro mit viel Katzenwortwitz und -spiel die Machenschaften der Bösen, den Zusammenhalt von Miez und ihren Freund*innen und das Treiben der tierischen Medienanstalten. Großartig wieder: die Namenswahl der Figuren. Mit stetem Bezug zu real existenten lebenden oder toten Personen findet der Autor jedes nur mögliche tierische Wortspiel. Während die Menschenwelt im Buch nur eine kleine Nebenrolle spielt, finden sich in dieser kätzischen Realität viele Bezüge zu politischen und sozialen Missständen und Ereignissen unserer Welt, genial verwoben durch Wollfäden ziehende Pfoten (als ob Fabsens Katzen ihre Krallen da nicht im Spiel hatten).
Fazit: ein Krimi, der selbst mir als Katzen- aber nicht Krimifan großen Spaß macht und den ich nur empfehlen kann.
Ich warte: auf Miez Marples Lyrikband. Das waren auch echt zu wenige Gedichte in diesem Krimi.
Ich frage mich: Wie würde man Katzen entgendern? Katzen*Kater? Sind Kater einfach mitgemeint? Fragen über Fragen…
*** Danke an den Goldmann Verlag für das Rezensionsexemplar ***
Bedeutung: Fülle von verschiedenen Arten, Formen o. Ä., in denen etwas Bestimmtes vorhanden ist, vorkommt, sich manifestiert; große Mannigfaltigkeit[1]
Vielfalt, sobald sie sich auf die Gesellschaft bezieht, wird vieldiskutiert, obwohl es eigentlich nicht so viel zu diskutieren gibt. Sie ist alltäglich, alles umfassend und überall zu finden, weil Vielfalt so vieles miteinschließt. Vielfalt in ihrer Vielfalt lässt sich kaum definieren, eben weil so vieles dazugehört, weil wir alle dazugehören. Dass sie so sehr diskutiert, teils verneint oder verweigert wird, liegt oft an Nichtwissen, Nichtkennen und manchmal an schlichter Ignoranz. Das Gute ist: Lernen ist möglich.
Gestern, am 11.12.2023 ist Vielfalt – das andere Wörterbuch im Duden Verlag erschienen und sorgt für eine weitere Möglichkeit, Vielfalt kennenzulernen, zu verstehen und für sie sensibilisiert zu werden. 100 Begriffe werden in 100 Beträgen von 100 Menschen erklärt, die allesamt persönlichen und/oder beruflichen Bezug zu ihren Themen haben. Neben offensichtlicheren Vielfaltsthemen wie Behinderung, Rassismus, Klassismus und Queerness finden auch Themen wie Demokratie, Medienvielfalt und Sport ihren Raum. Und natürlich: 100 Begriffe erklären nicht die gesamte Vielfalt. Aber es ist ein Anfang. Ein erster Versuch, eine Annäherung.
Neben 99 anderen Autor*innen darf auch ich in diesem Buch stehen, das Sebastian Pertsch so großartig kuratiert und herausgegeben hat. Mein Thema, Heteronormativität, erkläre ich auf meinen beiden Seiten so knapp wie nötig, so persönlich wie möglich, ohne dass es den Sachbuchcharakter verliert. Alle weiteren Themen, in die ich reingelesen habe, lesen sich absolut fantastisch, interessant und klug geschrieben, und ich wünsche diesem Buch und uns allen und auch der Vielfalt selbst so viele Leser*innen wie möglich.
In Hoffnung, die leuchtet, verarbeitet Jasmin Sturm alias Farbflausen in 24 Texten und Illustrationen ihre Gedanken zu Licht, Schatten und dem Dazwischen. Die Texte variieren zwischen Lyrik und Prosa, sind oft sehr persönlich und laden zum Mitfühlen ein. Da geht es um das Leben mit Kindern und ihre Fragen, um die Gesellschaft und ihre (Vor)Urteile, um Krankheit und Behinderung, um Resilienz und wo sie wohnt, um Hoffnungslosigkeit und die leisen und lauten Töne der Verzweiflung, die manchmal in uns mitschwingt.
So sehr ich mich in einigen Gedichten wiederfand, was mich durchweg am meisten berührt hat, waren die Illustrationen. Jasmin Sturm hat eine Art zu bebildern, die mich erreicht, klare, deutliche Farben und Gestaltung, vielfältige Figuren und ruhig, nicht aufwühlend in der Wirkung. Mein wohl liebster Moment im Buch sind zwei Doppelseiten, in denen es ums Aushalten geht, ums damit allein fühlen und dann nicht damit allein sein. So sehr mich hier auch die Worte berühren, es ist die Bildebene, die mich noch tiefer bewegt.
Dank Jasmin für das Rezensionsexemplar. Liebe Leser*innen, das ist nun unbezahlte Werbung, aber schaut euch doch mal in Jasmins Shop um, alle Bücher, Büchlein, Postkarten und und und sind ganz wunderschön.